Richtung alter Heimat

Vor zwei Wochen bin ich in die Türkei geflogen. Ich hörte schon im Flugzeug durch den Lautsprecher die Wettervorhersage freute mich über das schöne Wetter in der Türkei. Es waren nämlich 23° C. In Deutschland waren es gerade mal 10° C als ich ins Flugzeug einstieg.

Die Leute im Flugzeug redeten miteinander, als ob sie sich seit Jahren kennen würden. Dabei hatten sich viele gerade erst im Flugzeug kennen gelernt. Neben mir saßen zwei Männer, die plauderten über ihre Arbeitsstelle und wo sie bis jetzt überall gearbeitet hatten.

Hinter mir saßen Vater, Mutter, Tochter, die ununterbrochen über Ihre Urlaubspläne sprachen. Drei Jungs vor mir quatschten besonders laut und lachten über jede Kleinigkeit. Auch die übrigen Menschen redeten miteinander. Die, die gerade nicht im Gespräch vertieft waren, standen in der Reihe vor dem WC. Jedenfalls waren alle Passagiere beschäftigt. Es war wie auf dem Marktplatz in Köln-Nippes.

Einige redeten über die Heimat und über die Ferne. Darüber, wie es in den 70er Jahren in Deutschland war. Über die Wohn- und Arbeitsverhältnisse, wie sie nach Deutschland kamen, woher sie aus der Türkei stammen. Über ihre Kinder in Deutschland, über ihre Verwandten in der Türkei usw. Sie freuten sich, bald wieder zu Hause in der Türkei bei ihren Liebenden, bei den Eltern oder den Geschwistern zu sein, von denen sie all die Jahre entfernt in Deutschland gelebt hatten.

Sie fragten sich gegenseitig was der Grund ihres Reisens sei. Sie meinten, dass sie nach vielen Jahren des Arbeitens in Deutschland es sich endlich verdient hätten in ihre Heimat zurück zu fliegen. Denn sie seien jetzt Rentner. Deutschland brauche sie als Arbeitskraft nicht mehr. Die Kinder seien groß geworden, hätten geheiratet und hätten längst eigene Kinder bekommen.

So nach dem Motto: die kann man allein lassen, die machen keinen Unsinn mehr. Sie selbst sind nun von ihren Pflichten befreit. Es waren viele alte Menschen im Flugzeug. Sie fragten sich gegenseitig aus und redeten miteinander, als ob sich alle Gleichgesinnten in diesem Flugzeug getroffen hätten. Ich war die einzige, die den Menschen kreuz und quer zuhörte.

Sie sprachen auch so laut, dass man zuhören musste, auch wenn man es nicht wollte. Eigentlich hatte ich ein Buch mitgenommen, aber zum Lesen kam ich nicht. Ich guckte die Menschen mit Absicht nicht an, damit sie mich nicht auch fragten. Ich schaute auf die Seiten meines Buches. Denn die Fragen, die sie sich gegenseitig stellten, hatte ich mir noch nie selbst gestellt.

Was ist denn Heimat eigentlich für mich? Da fiel mir meine ehemalige, deutsche Klassenkameradin Iris ein, die mir in der 5. Klasse in mein Poesiealbum ein Gedicht geschrieben hatte. Es lautete: „Vergesse nie Deine Heimat, wo einst deine Wiege stand.“

Als ich eine Jugendliche war, hörte ich zwei älteren Männern zu. Sie sagten: „Heimat ist da, wo man Geld verdient und seine Familie ernähren kann.“

Später in der Schule haben  wir im Deutschunterricht das Thema „Romantik“ besprochen. In den Gedichten von Eichendorf ging es auch um Heimat und Ferne. Damals hatte ich Heimat so verstanden, dass Menschen ihre Lieben verlassen, um sich die Ferne anzusehen. Entweder aus Abenteuerlust oder um Geld zu verdienen, um reich zu werden  und sich dann ihre Wünsche erfüllen zu  können.

Aber in dem deutschen Wort Heimat steckt auch das Wort „Heim“ drin. Es muss wohl für „zu Hause“ stehen. Und zu Hause fühlt man sich doch am wohlsten. Da lebt man mit seiner Familie oder mit den liebsten Menschen zusammen. Wenn ich doch mit Menschen zusammen lebe, die ich liebe, bin ich glücklich, egal in welchem Land ich lebe. Hauptsache ich lebe mit ihnen zusammen. Meine Eltern, Geschwister, mein Mann und meine Kinder leben in Deutschland. Ich  bin hier zu Hause und bin hier glücklich. Auch wenn das Wetter meistens traurig ist, bin ich glücklich!!!

In der Ferne fühlt man sich nur nicht wohl, wenn man Menschen hinterlassen hat, die man liebt und selbst in einem anderen Land leben muss. Getrennt von zu Hause, von den Liebenden und denen, die man selbst liebt. Man begibt sich in ferne Länder meistens des Geldes wegen. Um Geld zu verdienen, damit es denen, die man liebt, gut geht. Man opfert sich für die anderen und wird meistens selbst der Leidtragende. Doch im Herzen hat man immer die Hoffnung zu denen zurückzukehren, die man so liebt und so vermisst.

Mit viel Geld in der Tasche, um auch alle Wünsche erfüllen zu können. Deshalb haben sich wohl die Menschen nicht in Deutschland zu Hause fühlen können. Sie fühlten sich hier nicht heimisch, weil sie körperlich hier und seelisch in ihrer Heimat waren.

Würden sie sonst Deutschland als „Ferne“ bezeichnen? Jetzt wo sie Rentner sind fliegen sie zu denen, die sie damals zurückgelassen hatten. Sie fliegen wie die Vögel in warme Länder. Also sind sie nun vogelfrei. Ob die Menschen noch leben, die sie hinterlassen hatten? Wenn sie leben, sehen sie so aus, wie sie waren? Wer von denen kann sich noch an euch erinnern? Haben sie euch auch so vermisst, wie ihr sie vermisst habt? Hat das schöne Wetter in der Türkei den Kummer und den Schmerz der Trennung von den Hinterlassenen verdecken können?

Konnte das Geld, das Ihr in Deutschland verdient habt, Eure Träume verwirklichen? Konnte das Geld Eure Wunden und Schmerzen heilen? Habt ihr Euch eurer Heimat und eurer Geliebten nicht mit der Zeit entfremdet? Habt ihr Euch deshalb in Deutschland nicht all die Jahre integrieren können? Wo seit Ihr beheimatet und wo sind Eure euch Liebenden? Da hörte ich über Lautsprecher, dass wir jetzt landen und wurde aus meinen Gedanken herausgerissen.

Fatma Afife Gürsoy

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